Goethes Romans « Wilhelm Meisters Lehrjahre » erscheint
1776 und gilt als das Vorbild der Gattung "Bildungsroman". Es handelt
sich dabei um einen Roman, der die Bildung eines Menschen darstellt. Dank
der vollen Entfaltung seiner Anlagen kann sich der Held in die
Adelsgesellschaft einfügen.
Novalis fand, dass Goethe in seinem Roman der Realität zuviel
und der Poesie zu wenig Platz einräume. Er verfasste
als Gegenmuster den "Heinrich von Ofterdingen". Es stellt sich die Frage,
ob Novalis’ Roman doch nicht in die Kategorie des Bildungsromans
eingeordnet werden kann.
Um auf diese Frage näher einzugehen, muss
untersucht werden, inwiefern der Held eine Entwicklung erlebt und welchen
Sinn diese Entwicklung hat, das heißt,
ob sie die Anpassung an die Gesellschaftsordnung zum Zwecke hat oder etwas
anderes anstrebt.
Es ist unleugbar, dass
Heinrich von Ofterdingens
Wanderjahre zugleich Lehrjahre sind, denn er begegnet Menschen, die ihm
einen Einblick in die Vielfalt des Lebens verschaffen. Er trifft
Kaufleute, Kreuzritter, eine Morgenländerin, einen Bergmann, einen
Einsiedler, und schließlich
Klingsohr und Mathilde. Alle tragen zur Reifung des jungen Mannes bei,
nicht nur, weil jede Gestalt als Vertreter einer bestimmten sozialen
Schicht angesehen werden kann, sondern auch, weil Heinrich aus ihrem Mund
Geschichten und Berichte hört, die alle Gebiete des Lebens zum Gegenstand
haben und ihm also Kenntnisse über Politik, Religion und Natur vermitteln.
Kein Wunder also, dass
Heinrich nach seinen lehrreichen Gesprächen mit den Kaufleuten zu dem
Schluss
kommt : "Es ist mir, als würde ich manches besser verstehen, ... " Der
Bergmann zum Beispiel erzählt ihm, wie er zum Bergmann geworden ist und
offenbart auf diese Weise, wie er zu sich selbst gefunden hat. Der
Einsiedler unterrichtet den Helden über den Sinn der Geschichte. Heinrichs
Liebe zu Mathilde und der Tod der Geliebten sind weitere Erlebnisse, die
den Helden mit zwei wesentlichen Komponenten des menschlichen Lebens -
Liebe und Tod - konfrontieren und seine innere Entwicklung bestimmen.
Es ist aber auch unbestreitbar, dass
jede Begegnung, jedes Gespräch ein anderes Ziel verfolgt als die bloße
Aufklärung Heinrichs über den Gang der äußeren
Dinge. Es werden nicht nur Berichte und Geschichten, sondern auch Sagen
und Märchen erzählt. Die Arion-Sage und die Atlantis-Sage, um nur diese zu
nennen, zeigen Heinrich die Macht der Poesie : Der Dichter ist ein
Zauberer, die Poesie wird das goldene Zeitalter wiederherstellen.
Klingsohr erzählt am Ende des ersten Teils ein Märchen, in dem die Welt
dank der Poesie zu einer Welt der Liebe und des Friedens wird. Und jedes
Gespräch wird zur Gelegenheit, Heinrich in die Welt der Poesie einzuführen
: Es fällt beispielsweise den Kaufleuten auf, dass
Heinrich eine Neigung « zum Wunderbaren » hat.
Der
Einsiedler meint, dass « ein Geschichtschreiber ... ein Dichter sein
müsste ».
Das Motiv der Poesie taucht also immer wieder auf und lässt
Heinrich nach und nach seine Berufung zum Dichter erkennen.
Es wäre also ein Irrtum, Novalis' Roman als bloben
Bildungsroman zu betrachten. Zwar stimmt es, dass
der Held Erfahrungen sammelt, die seinen kulturellen Horizont erweitern
und seine Reifung bewirken. Aber Heinrichs schwerwiegendstes Erlebnis ist
seine Entdeckung der Märchenwelt, das heißt,
der poetisierten Welt. Seine Suche nach der blauen Blume ist nicht
vergebens und der Traum am Anfang des Werkes wird Wirklichkeit. Diese
blaue Blume symbolisiert die Poesie und Heinrich findet die blaue Blume,
indem er sich seiner dichterischen Veranlagung bewu