Süddeutsche Zeitung, 11.11.03

Antisemitismus

Lupenreines Exempel : Martin Hohmanns judenfeindlicher Diskurs
Von Wolfgang Benz*

Als Möllemann beim Stimmenfang Judenfeindschaft stimulierte, plagten sich Leitartikler und Diskussionsrunden mit der Frage, was denn Antisemitismus eigentlich sei. Das Bestreben ging in der Regel dahin, die Schwelle zwischen dem, „was man doch endlich einmal sagen dürfe (müsse)“, und dem, was als manifester Antisemitismus zu ächten sei, nach den Geboten der political correctness oder schlicht nach Anstand und Humanität möglichst hoch anzusetzen.

In zwei Lager spalteten sich die Auguren. Während die einen allezeit bereit sind, die Alarmglocken zu läuten, scheinen die anderen verabredet zu haben, dass Antisemitismus erst dann existiert, wenn er als Auftakt zum Völkermord oder wenigstens als Brachialdelikt wahrzunehmen ist.

Der Sorge um die Definition der Judenfeindschaft hat uns der Abgeordnete Martin Hohmann enthoben. In seiner patriotischen Rede zum 3. Oktober hat er nicht nur vorgeführt, wie Hass gegen Juden instrumentalisiert wird, er hat auch das lupenreine Exempel statuiert, was Antisemitismus ist und wie er funktioniert.

Einzigartig und neu am jüngsten antisemitischen Skandal ist die Tatsache, dass erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik eine geschlossene judenfeindliche Argumentation von einem Politiker einer demokratischen Partei vorgetragen wurde, die nicht als rhetorische Entgleisung oder als missglückte Phrase im Eifer des Gefechtes mit einer Entschuldigung abgetan wäre.

Die Rede ist elaboriert und mit Fleiß erarbeitet, dahinter steht Gesinnung und Literaturstudium, der Verfertiger fügt anscheinend bewiesene Fakten aneinander und stellt eindeutige Bezüge her.

Die Quellen, aus denen er schöpft, sind freilich trübe: Es sind uralte antisemitische Klischees, mit denen seit 80 Jahren Verängstigte und Ratlose auf kommunistische Revolution, Räteherrschaft und anderes Ungemach reagiert haben. „Juden waren es, die den Marxismus erfanden, Juden sind es, die mit ihm seit Jahrzehnten die Welt zu revolutionieren versuchen“.

Verfasser dieses Wochenspruchs der NSDAP, der im September/Oktober 1941 galt, war Dr. Goebbels. „Viele der für den Bolschewismus engagierten Juden fühlten sich sozusagen als gläubige Soldaten der Weltrevolution“, sagte der Abgeordnete Hohmann am 3. Oktober. Dann bewies er mit Zahlen und Zitaten, dass Juden in den revolutionären Gremien Sowjetrusslands überproportional vertreten waren, und legte den Schluss nahe, niedere Beweggründe hätten sie zum Bolschewismus getrieben.

Ignorant oder abgefeimt

Damit die Beweisführung stimmt, muss freilich das Judentum nach den Nürnberger Gesetzen der Nationalsozialisten definiert und die Argumentation durch die Behauptung justiert werden, „der überaus hohe Anteil von Juden bei den kommunistischen Gründervätern und den revolutionären Gremien beschränkte sich keineswegs auf die Sowjetunion“.

Damit sind Weltverschwörungsphantasien angeregt – auch dies ein Stereotyp aus dem Arsenal der Judenfeindschaft. In Wien seien, so Hohmann, von 137 führenden Austro-Marxisten 81 und somit 60 Prozent jüdisch gewesen. Ein anderer, Adolf Hitler war es, hatte den gleichen Schluss gezogen: „Im Bolschewismus haben wir den im 20. Jahrhundert unternommenen Versuch des Judentums zu erblicken, sich die Weltherrschaft anzueignen“.

Eingeübt wurde diese Weltsicht im Dritten Reich mit anhaltendem Erfolg. Die parteiamtliche Propaganda-Schau „Der ewige Jude“, 1937 erst im Deutschen Museum gezeigt, dann auf Tournee, hämmerte die Botschaft in die Gehirne: „Überall herrschen die Juden mit einer Brutalität, die jeden Widerstand, jede Auflehnung der selbstbewussten völkischen Kräfte des russischen Volkes im Blut ungezählter Millionen seiner Besten ertränkt.

Von ihrer Zentrale in Moskau geben sie ihre Befehle an ihre Rassegenossen in alle Welt zur Verwirklichung der Weltrevolution, zur Verwirklichung der seit Jahrtausenden erstrebten Weltherrschaft des auserwählten Volkes“. Die Phantasmagorie der jüdischen Weltverschwörung fügt sich in das Bild wie die Gewissheit Hohmanns, dass die Juden grausam und bösartig sind: „Der Mord am russischen Zaren und seiner Familie wurde von dem Juden Jakob Swerdlow angeordnet und von dem Juden Chaimowitz Jurowski am Zaren Nikolaus II eigenhändig vollzogen“.

Das ist auch sprachlich durchgestaltet, in solchen Formulierungen steckt Arbeit und Überzeugung, wie in der Behauptung, in der sowjetischen Geheimpolizei, der Tscheka, sei der jüdische Anteil astronomisch gewesen (in der Ukraine angeblich 75 Prozent bei einem Bevölkerungsanteil von nur 2 Prozent Juden in der ganzen Sowjetunion).

Die Bösartigkeit und Mordlust der Juden leuchtet nach Feststellungen ein wie der vom Zarenmord oder der Gleichsetzung von Revolutionären, Juden, mörderischen Rotgardisten in der Münchner Räterepublik oder nach der Schilderung von Ausrottungsphantasien jüdischer Kommunisten, weil dies als unumstößliche Gewissheit unter Berufung auf Autorität und Wissenschaft vorgetragen wird. Die Mordphantasien der „kommunistischen jüdischen Revolutionäre“ seien keine leeren Drohungen gewesen, suggeriert Hohmann: "Das war Ernst. Das war tödlicher Ernst. Nach einer von Churchill 1930 vorgetragenen statistischen Untersuchung eines Professors sollen den Sowjets 1924 folgende Menschen zum Opfer gefallen sein: 28 orthodoxe Bischöfe, 1219 orthodoxe Geistliche, 6000 Professoren und Lehrer, 9000 Doktoren, 12 950 Grundbesitzer, 54 000 Offiziere, 70 000 Polizisten, 193 000 Arbeiter, 260 000 Soldaten, 355 000 Intellektuelle und Gewerbetreibende sowie 815 000 Bauern“.

Sowjets und Juden sind damit stillschweigend synonym erklärt, und die Magie der Statistik beweist sich scheinbar selbst. Das sind die traditionellen Argumentationsmuster judenfeindlicher Demagogie. Die Argumente des Abgeordneten Hohmann sind weder neu noch originell. Das erkennt man schon an der auftrumpfenden Erwähnung von Henry Fords antisemitischem Pamphlet aus den 20er Jahren, das nichts anderes als eine Variation zu den „Protokollen der Weisen von Zion“ ist. Die Erwähnung des einstigen antisemitischen Bestsellers lässt nur zwei Interpretationen zu: bodenlose Ignoranz oder abgefeimte Gesinnung.

Die Ausführungen des Abgeordneten H. sind aber das Lehrstück für den antisemitischen Diskurs schlechthin. Zum „jüdischen Bolschewismus“ werden historische Fakten erwähnt – Russische Revolution, Münchner Räterepublik –, dann werden die Akteure benannt, deren Namen bekannt sind (etwa Leo Trotzki, Bela Kun) unter Verzicht auf alle Protagonisten, die nicht ins Bild passen. Damit ist die Weltrevolution zur jüdischen Affäre gemacht.

Die Technik des antisemitischen Diskurses liegt in der Instrumentalisierung des Vorurteils, in der Beschwörung des Ressentiments, in der raffinierten Erzeugung von Konnotationen. Eine Quelle (wie das Pamphlet Fords) wird referiert, ohne dass der Referent sich im juristischen Sinne das Gesagte zu eigen macht.

Das scheinbare Distanzieren hat in Wahrheit Brückenfunktion. „Wie kommt Ford zu seiner These, die für unsere Ohren der NS-Propaganda vom ‚jüdischen Bolschewismus‘ ähneln?“ fragt Hohmann, um mit einem Zitat „des Juden Felix Teilhaber“ zu antworten, das beweist, dass der Antisemit Ford recht hat.

Mit diesem Rezept, das Fakten, Legenden, Zitate, rhetorische Fragen solange verquirlt, bis das Publikum zur beabsichtigten Schlussapotheose reif ist, wird Verwirrung gestiftet, die als Klarheit ausgegeben wird: Der Redner suggeriert seinem Publikum, man habe durch gemeinsame Forschungsarbeit die Erkenntnis gewonnen, „dass der Vorwurf an die Deutschen schlechthin, ‚Tätervolk‘ zu sein“, unberechtigt sei.

Dazu hat der Abgeordnete H. den klassischen antisemitischen Diskurs vorgeführt, wie man ihn seit den Reden kennt, in denen im 19. Jahrhundert die „Judenfrage“ erfunden und deren Lösung und „Endlösung“ im 20. Jahrhundert betrieben wurde. Zum Wesen dieses Diskurses gehört, dass die jüdische Minderheit in Anspruch genommen wird, um Probleme nationaler Identität der Mehrheit zu artikulieren.

*Der Autor ist Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung in Berlin.

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